Samstag, 20. Juni 2015

Wie stark darf ich auf die Tränendrüse drücken?

Zuerst etwas Grundsätzliches: Oft werde ich aus dem Ausland gefragt wie gefährlich es denn sei. Diese Frage überrascht mich immer, ich habe überhaupt nicht das Gefühl dass es gefährlich ist. Es gibt zwei Sichtweisen: 8'000 Leute sind umgekommen, es ist unglaublich gefährlich. Meine Sicht: Von den 28'000'000 leben weiterhin 27'992'000 und die starken Erdbeben sind hoffentlich vorbei. Nachbeben über 4 gibt es fast täglich.

Auf unserem Abstieg von Suri mussten wir einen steilen Erdrutsch passieren. Darin seien bei einem weiteren Erdrutsch 10 Personen umgekommen. Es ist für mich nicht nachvollziehbar wie sich gleichzeitig 10 Personen in so eine Geröllhalde begeben können, auch in der Schweiz wird so eine Stelle höchstens zu zweit passiert. Zudem hatte es die Nacht vorher nur wenig geregnet. Warum soll also ein weiterer Erdrutsch genau in den wenigen Minuten erfolgen, in welchen ich passiere? Ein Restrisiko besteht in jeder Situation und mit dem muss / kann man weltweit leben.

Gestern war ein ereignisreicher Tag, um 06.18 h ruf mich ein verzweifelter Patensohn an, um 9h treffen wir uns und finden eine temporäre Lösung.

Vorgestern hat mich Tenzin Thardoe mit seinem Mami im ROKPA besucht und wir haben uns etwas kennengelernt. Mein Mami wurde vom Principal der NHSS angefragt, ob es sein Studium zum Microbiologen in Bangalore, Indien finanzieren könnte. Ohne Sponsor hat er keine Chance.

Ich konnte ihnen eine Spende eines Motorradkollegen übergeben, als Überbrückungshilfe. Vielen Dank!


Um 10.30 h werde ich von Tenzin Thardoe zum Mittagessen bei ihm zu Hause abgeholt. Mit dem Taxi fahren wir nach Swayambhu, in der Nähe des zerstörten Affentempels. Zwei Schwestern, die 24 jährige Sangyal Dolma und die 20 jährige Tsering Dolma erwarten mich. Sie wohnen alle in einem Zimmer, wenn alle fünf Geschwister hier sind wird es etwas eng. Gemeinschafts-WC und -Dusche gibt es im Korridor, Gebrauchswasser können sie im Garten pumpen. 

 Ihr Mami hat mir eine feine Karottensuppe gemacht, da ich gestern aufgrund meiner Magenverstimmung nur eine solche gegessen hatte. Lange unterhalten wir uns und ich erfahre mehr über ihr Leben:
Der Vater ist ein ganz toller Hecht! Mit der ersten Frau hatte er zwei Kinder, dann ist sie gestorben, was mit den Kindern passier ist weiss man nicht. Mit Tenzins Mutter zeugte er fünf Kinder. Als das fünfte nach 7 Monaten auf die Welt kam zog er zur dritten Frau, mit dieser produziert er weiter. Kontakt und Unterstützung gibt es keine. Für die beiden Buben hat er Dokumente als tibetische Flüchtlinge beantragt, Mädchen zählen für ihn nichts und sie sind somit papierlos. Sie haben auch keine Ahnung wie sie ohne Geld zu Dokumenten kommen können. Irgendwann brechen sie in Tränen aus, sie hätten so gerne auch studiert, aber ohne Sponsor hatten sie keine Chance. Die beiden jüngeren Geschwister, der 17-jährige Dawa Tsering und die 12-jährige Nyima Yangchen, werden gratis in einer tibetischen Privatschule unterrichtet und können dort wohnen, vielleicht findet sich für sie einmal ein Sponsor.

Sangyal Dolma ist arbeitslos, sie unterstützt die Mutter im kleinen Restaurant und schaut zu den Geschwistern, wenn sie hier sind. Tsering Dolma arbeitet in einem "Kleiderladen" und verdient sFr. 50.-, damit kann die Zimmermiete von sFr. 45.- bezahlt werden.
Ich erhalte das übliche Mittagessen: Dal Bhat: Eine Linsensuppe (Dal), Reis (Bhat) und Gemüse der Saison. Dieses Essen habe ich gerne und das Gemüse ist immer verschieden zubereitet. Dass ich hier vorwiegend vegetarisch lebe hat auch damit zu tun, dass die Fleischzubereitung oft nicht meinem Geschmack entspricht.

Wir spazieren zum "Hotel" der Mutter, überall werden zerstörte Häuser abgebrochen, es wird aufgeräumt. Ein "Hotel" ist ein Minirestaurant. Die 48-jährige Mutter Namgel Dolkar hat sich auf Nudeln festgelegt, das grösste Einkommen erzielt sie mit Raki, einem Reisschnaps. Diesen verkauft sie illegal, ohne Lizenz. Wenn die Polizei wieder einmal vorbeikommt hat sie Ärger, aber von etwas muss sie ja leben. Da viele Leute Kathmandu verlassen haben und es viele "Hotels" gibt ist sie froh wenn sie Ende Monat etwas mehr als die Miete von sFr. 75.- erwirtschaftet hat. Ein Tibeter kommt herein, bestellt eine Wasserglas voll Raki und leert es in einem Zug. Ich möchte den Raki auch probieren, aber sie raten mir ab, über die Qualität haben sie keine Kontrolle.

Ich entscheide, dass mein Mami Tenzin Thardoe unterstützen wird. Meine Abklärungen haben ergeben, dass er anschliessend ans Studium in Bangalore mit Sicherheit einen Job erhält und mit dem Lohn seine Familie unterstützen kann. Es wird etwas teurer. Vor der Einschreibung muss er eine "Spende" von sFr. 1'000.- machen, ohne Quittung natürlich, dann kostet die Einschreibung sFr. 250.-. Die Studiengebühren betragen jährlich sFr. 500.- und die Unterkunft und Verpflegung sFr. 1'300.-. Es ist für hiesige Verhältnisse wahnsinnig viel Geld, aber ... Als ich mitteile, dass mein Mami das Studium finanzieren wird brechen alle drei Frauen in Tränen aus. Die  Hoffnung der grossen Armut irgendwann entrinnen zu können ist fast zu schön um wahr zu sein.

Am Nachmittag haben wir im ROKPA eine Sitzung und prüfen die Möglichkeit wie den Mitarbeiterinnen der Handarbeitswerkstatt bei der Wohnungssituation geholfen werden kann. Wir besichtigen ein Objekt. Mit Stolz wird erzählt dass hier drei Strassenkinder aufgenommen wurden, zur Schule gehen sie nicht, aber sie machen Handarbeiten!

Zum Vergleich: Bei ROKPA leben aktuell 55 Strassenkinder und alle besuchen eine Privatschule!  http://www.rokpa.org/ch_DE/home.html.

Mit BeJay geniesse ich einen Kaffee. Auch er ist ein ehemaliges Strassenkind und nun für die Kinderadministration verantwortlich. Bei ROKPA durfte ich wirklich tolle Leute kennenlernen!














Überall verschwinden die Zeugen des Erdbebens, auch der Boudanath Stupa wird reapriert.
 
Den Abend geniesse ich mit Devi, Saru, Manisha und Santosh unter Touristen bei einer feinen Pizza und bei Betrachtung der Fotos unseres Ausfluges. So unterschiedlich kann das Leben sein.

Ja, man sieht wieder Touristen, aber eher Backpacker als finanzkräftige. Zudem ist schwierig zu erkennen, ob es Touristen sind oder Leute von Hilfswerken, die sich hier von den Strapazen erholen.

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